Lauter Romananfänge – heute: «Welt in 16 Farben»

Welt in 16 Farben

Max bog in die kleine Straße ein.
«Was soll ich machen? Ich lebe jetzt mein Leben, hier im Verlag. Ich muß noch 25 Jahre arbeiten, dann bin ich durch damit.» 30 km/h.
«Vielleicht kommt ja mal was Besseres», wandte Marie, die Frau an seiner Seite, finster ein. Sie wußte nicht, was das sein würde: Schrott?
Max parkte.
«Was wird besser sein? Sag es mir. Ich will es wissen.» Seine Gesichtszüge signalisierten Hilflosigkeit, einen Wert, den ihre Reflexe zurückwiesen:
«Reiß dich zusammen!» Ihr Atem ging flach und stoßweise, ihr Blick kippte ins Leere. Max beschloß, eine Initiative zu schalten; Distanzausblendung/kurzer Schwenk – Max vollzog eine Drehung um 90 Grad: Ein Blickkontakt, in dem sich zwei Welten spiegelten, bahnte sich an – eine sinnlose Perspektive; die Hoffnung, eine Schnittstelle und damit die Möglichkeit einer Annäherung zu finden, bot zwar nach Maxens Lesart eine Nische, an die er glaubte, doch nur, weil es sonst nichts gab, an das er hätte glauben können. Daß es in den Augen seiner Partnerin für Glaubenssätze, die auf Hoffnung beruhten, keinen Spielraum gab – diese Einsicht hätte ihm wenig geholfen. Als Repräsentantin einer Kaste, die das Realitätsprinzip verkörperte, stand sie den Gesetzen von Grund auf näher als ihre Gegenspieler – Männer, die das System analysierten, anstatt es zu begreifen. Um es mit einem Wort zu sagen, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas nüchtern klingt: Abstraktionen beruhten auf Legenden und Legenden konnten den Ursprung, der ihnen vorauseilte, niemals einholen. Der eigentliche Fehler umriß daher kein Phänomen, das von der Wahl des Weges, auf dem sich Reflexion vollzog, abhieng, sondern die Sache selbst, der Glaube also, daß es die Wege sind, die zu Antworten führen – das war der Fehler, das Denken schlechthin/ein Schnitt:
«Ich denke oberflächlich aber blicke tief!», scherzte sie und fügte lachend hinzu: «Liebe ist Funktion.» Augenaufschlag. Sie sah in den Spiegel. Max, in seiner Ausgangslage verharrend, fixierte das Verlagsgebäude. Ob sie es ernst meinte? Und er – wollte er die Wahrheit überhaupt wissen?! Die Antwort muß offen bleiben; im Geflecht aus Lug und Trug, das den Geschlechterkampf durchherrschte, die Übersicht zu wahren und zu ergründen, was am Ende tatsächlich gedacht wurde, entzog sich den Möglichkeiten einer dem Untergang geweihten Epoche. Es war kurz vor Zwölf.
«Blablabla», buchstabierte Max. Marie wandte sich ab und öffnete die Wagentür. Sekundentakt – Max folgte …
Vom Wagen aus quer über den Parkplatz ein Stück an der Verlagsfront entlang über die erste Schwelle hinweg und vom Lift in die dritte Etage gehoben, durchliefen sie eine Kette von Verzweigungen, die sich dreidimensional in Szene setzte und schließlich in die gähnende Leere eines Flures führte – dem Bureau des Cheflektors entgegen. Dumpfes Neonlicht.
«Magst du Beerdigungen?», fragte Max. Marie bejahte den Quatsch. Das Ambiente, dem sie sich verschrieben hatten, war teuer. Und fies. Max blickte zu Boden, sein fliehender Schatten eilte ihm voraus: zack! zack!
«Soll ich klopfen oder gegen die Tür treten?», wollte er wissen. Marie wechselte die Seite und beantwortete die Frage lautlos; Distanz ein Meter/Schriftzug: Kiss. Die Karikatur eines Gongschlags bohrte sich durch die Mitte. Sie traten ein.

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