Zwei Epochen – eine Geschichte (Teil 2: Stilebene 21/22)

Hindernis auf Kurs

Raketenhaft hatte das Frühjahr einen Sommertag in die Landschaft geschoben. Das kleine Städtchen, in dem 3Max seit einigen Monaten seine Runden drehte, funkelte wie eine Spiegelscherbe im Mobiliar, und im Ensemble alltäglichen Einerleis agierten die Figuren wie aufgezogen. Uhrzeit: Mitte April.
Nach der Trennung von seiner Frau, die undramatischer verlaufen war als eine Reifenpanne um Mitternacht, hatte 3Max hier einen neuen Anfang gesucht, zuerst als Tourist, nachher als Fremder. Handicap: Autopilot. Es war schwer, diese Einstellung abzustreifen. Vielleicht würde dieser Tag eine Wende bringen. Gutes Wetter war hilfreicher als das beste Horoskop, und wenn eine ganze Jahreszeit übersprungen wurde, war das ein Zeichen. 3Max liebte Zeichen.
O-Ton: «Erlösung und Zuversicht – zwei Worte, ein Tag.» Solche und ähnliche Gedanken flatterten beständig durch die Innenwelt unseres Protagonisten, dessen bürgerlichen Namen wir diskret verschweigen, um seinen Wunschnamen zu nennen. Kurzer Schwenk: «Danke».
Angespornt vom kravallartigen Getue des Volkes, das unbeaufsichtigt durch die Sonnenstrahlen wirbelte, beschloß 3Max, eine Initiative zu schalten. Kurz vor dem Straßencafé, in dem er die meisten Vormittage verbrachte, drehte er ab in Richtung des Berges, der direkt ans Zentrum grenzte und den die Einheimischen «Hügel» nannten. Auf der Suche nach dem großen Licht in der Stadt, hatte er bislang versäumt, die Stadt selbst zu erkunden. Und die Aussicht, die der Berg bot, würde einen Anfang markieren. Pessimisten hätten hier ein Sitcom-Gelächter vernommen. Aber 3Max war Optimist.
Auf dem Weg, der ihn zum Berg führte, verfestigte sich die Gewißheit, einem hochoffiziellen Akt beizuwohnen, und die Klangfarbe seiner Schritte, die ein leichtes Echo nach sich zogen, buchstabierte Größeres. Eine Art Applaus vielleicht. Ganz diesem Gedanken ergeben, ertappte sich 3Max dabei, die Hand zu heben. Doch es war bereits grün.
Zoom out. Schlangenförmig warf sich der Pfad über endlos sich hinstreckende Geraden, die nach jeder Biegung steiler anstiegen, dem Ziel entgegen. Andachtsvoll, als würde jede Serpentine von einem Glockenschlag umsäumt, glitt 3Max schleichend empor. Wie immer, wenn er Dinge tat, die eigentlich keine Bedeutung hatten, rollte sich vor seinem inneren Auge ein roter Teppich aus, der von oben eingefangen wurde: Kameras, die niemand sehen konnte, da sie vor allen anderen Kameras thronten. Zoom in: «Metaphysische Kameras.» 3Max nickte.
War er der Prinz, von dem die Zukunft sprach? Natürlich. Und das fehlende Publikum war sein größter Trumpf. Was man dort oben wußte, mußte unten nicht bewiesen werden. Warum den Vorteil verspielen, der darin liegt, Akteur und Publikum in einer Person zu vereinen? Auf schnellen Ruhm zu drängen, wäre ebenso töricht gewesen wie der Sprung des Knaben zum Mann. Wie unbeschwert diese Zeit doch war! Ein idiotisches Lächeln umspielte seine Gesichtszüge, die jetzt tatsächlich knabenhaft wirkten. Eine Off-Stimme erklang am Horizont, eine Art Gesang – ein Zwischenruf: «Hurensohn!»
3Max, der sein Tempo unbemerkt beschleunigt hatte, sah zum Gipfel, zu jener zwischen Nähe und Distanz schwankenden Krone, die eigentlich nur eine Fiktion war, die um einen toten Punkt kreiste. Schließlich blickte er zum Stadtkern, der hinter dem letzten Drehpunkt so greifbar geworden war wie für Kinder der Mond. Ein Zeitraffer umarmte die Stunde, und ein Moment, der auf Ewigkeit pochte, hielt die Zeiger an. Maler? Fotograf? 3Max stoppte.
Er sah hinunter ins Tal, die Lippen zu einem endlosen M formend: «Meine Stadt. Mein Leben.» Ein Getriller fast. Die Arme ins Nichts ausstreckend, überließ er den pathetischen Glanz, der über die Szene kullerte, kurz sich selbst, bevor er langsam, jede Silbe betonend, hinzusetzte: «Ich bin dein Foto!» Ein Schuß ertönte.
Überblendung: Kein Schrei, kein Wort, kein Mensch. Ein Wald. Ein Weg. Ein Blick. Nach vorn. Zurück. Ein Schritt, ein Satz, dann zwei, und vier, bis zehn. Und stop. Ein Punkt. Im Licht. Ein Tier: im Blick! Verstellte Sicht. Gefahr!? Vor sich. T. Verzicht? Bericht…
Es war ein Tier, genauer ein Hund, das heißt: ein Schäferhund. Das Tier lauerte am Ende der Geraden in scheinbar sicherer Entfernung. Doch wer hatte geschossen? Der Besitzer? Offenbar hatte sich der Hund von ihm entfernt. Ein Rechenprozeß, der auf drei Fragen basierte, rollte an. Dem Tier entgegengehen? Zu gefährlich. Stehenbleiben? Eine Kampfansage. Zurücklaufen? Eine Bankrotterklärung.
3Max zögerte. Seine weiteren Schritte in Zeitlupe abmessend, tat er so, als würde er das Tier gar nicht bemerken. Vergebens. Aufbäumend streckte sich der Hund in seine Richtung. Ein Atemstop folgte, der in eine Kehrtwende mündete, die selbst für den Ausführenden überraschend war. Aber verständlich. Ohne Geleitschutz mit einem wilden Tier zu kämpfen – das konnte auch das Publikum nicht von ihm verlangen. Cut! Cut! Defizit-Applaus.
«Kontingenzterror ist kein Programm.» Eine Leitlinie, die durchaus pressetauglich war. 3Max, stolz darauf, etwas Gescheites in den Tag geworfen zu haben, konzentrierte sich auf Plan B: Dort hinter der Biegung, wo er für den Feind unsichtbar werden würde, konnte er ungestört telefonieren. Polizei! Vielleicht hatte sich der Besitzer des Schäferhundes mit der Schußwaffe verletzt. Ein Fall für Uniformierte. Ein Fall fürs Off: «Hurensohn!» Endlose Dehnung.
Woher kam der Schrei? 3Max, der bereits seine Deckung erreicht hatte, horchte auf. Wer war dieser Hurensohn? Und wer der Mann, der ihn rief? Vielleicht ein Kampf. Sitcom-Gelächter. Noch während 3Max die Notrufnummer eintippe, lief er zurück zur Biegung, um einen Blick zu riskieren. «Hilfe!» Ein Notschrei, lautlos inszeniert. 3Max zuckte zurück und lief, seine Schutzposition hinter sich lassend, über den Weg seitlich hinaus in den Wald. Kurzer Applaus.
Was ist mit dir, Held, was hast du gesehen? Sag es uns. 3Max: «Ich sah den Hund, den Schäferhund. Er flitzt auf mich zu: im Nu!» In der Tat: «flitzen» – das war die korrekte Vokabel. Der Rest war, wie so oft im Leben unseres Helden, überflüssig: ebenso das hysterische Umherlaufen und das Anspringen eines Baums, an dem sich 3Max jetzt wie irre hochhangelte, nicht wissend, was wir schon wissen, da wir, ein paar Szenen vorspringend, die Komik der Stunde in der Endszene konservieren.
A: Der Hund. Dem Tiere, wild vor dem Baum umhertanzend, bleibt das Bellen versagt. Ein Maulkorb ziert seine höheren Funktionen. B: Der Besitzer. Mit der Schrotflinte in der Hand, blickt er zum Fluchtopfer hinauf, einen Kraftausdruck verwendend, der regional gebräuchlich ist: «Du Dämelack!» C: Der Held. Immer noch weit unterhalb des Gipfels hängend. D: Eine Art Dialog. 3Max, stets um Klärung bemüht, fragt nach dem «Hurensohn». Antwort Besitzer: «Du, du, du bist der Hurensohn!» Frenetischer Beifall. «Wer trällert denn auf dieser Frequenz, die jeden Hund toll macht, durch den Wald?!» Abblende…
3Max blickte auf seine Trillerpfeife. Eine dumme Angewohnheit, sicher. Aber immerhin ein Statement.
Metaphysischer Mitschnitt Ende. Tag 10.965.
Musik.

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