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Unsere Lehrer (1) – heute: Der Psychopath

Unser Spanischlehrer Herr Kaiser (Name geändert) war der Auffassung, daß zur rechten Aussprache spanischer Vokabeln Gesichtsverzerrungen unabdingbar sind. Und so gewährte er uns bei der Aussprache vieler Vokabeln einen Einblick in den einstudierten, über Jahrzehnte gereiften Vorrat verschiedenster Grimassen. Bei einigen Wörtern veränderte sich sogar seine Stimme in einen anklingenden Heulton und seine Körperhaltung erhielt einen soldatischen Schliff. «D-o-s A-z-a-f-a-t-a-s!» (Zwei Stewardessen) – bei dieser Kombination erreichte seine Performance einen Spitzenwert.
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Kaiser fragt, Kaiser antwortet

Herr Kaiser liebte die Geschwindigkeit, die sinnlose Raserei. Die Lektionen des Schulbuches mit dem Titel «Modernes Spanisch» wurden so schnell durchgepaukt, daß selbst die Besseren unter uns Schwierigkeiten hatten, das Erlernte zu verinnerlichen. Manchmal flog der «Unterricht» in einem alles verschlingenden Tempo dahin oder es wurde einfach nur vorgelesen, und so gab es nicht selten zu Beginn einer Schulstunde das Problem der Orientierungslosigkeit: Bei welcher Aufgabe waren wir zuletzt? Was war neu, was war alt? Gelegentlich wurden auch Lektionen übersprungen. Versehentlich. Herr Kaiser wußte es ja oft selber nicht. Aber vielleicht war das auch nicht so wichtig, wichtiger war der Zeitvorsprung, den wir brauchten, da unser Spanischlehrer Großes mit uns vorhatte. Es ging dabei weniger um die Sprache, Spanisch war nur die Plattform, über die er seine als Lebensweisheiten getarnten Skurrilitäten oder philosophische Treppenwitze und anderen Unsinn unter die Schüler brachte wie schlechte Hustenbonbons: Plattheiten, Pseudo-Ideale und abgedroschene Weisheiten, die er in einer Penetranz auf die Schulstunden verteilte, daß wir bisweilen ratlos zustimmten.

Kostproben aus dem Arsenal der Konfusionen

Es gab Stunden, die waren ein einziges Selbstgespräch, gespickt mit Momenten unfreiwilliger Komik, denen etwas Tragisches anhaftete. «Woran erkennen wir einen Mann von Tugend und Ehre?», fragte Herr Kaiser eines Tages – Arme verschränkt, Lippen ein Strich –, um die Antwort umgehend, das Fragezeichen fast verschluckend, selbst zu geben: «Ein Mann von Tugend und Ehre», sagte er, nun wieder grinsend, die Stimme um eine Oktave gehoben, «hat beim Auftauchen der Polizei im Straßenverkehr, auch wenn dies plötzlich geschieht, keine Angst. Niemals!» Kunstpause, verhaltener Applaus. Dank Herrn Kaiser erfuhren wir auch, warum kein Schüler, und mag er noch so brillant sein, die Note «sehr gut» verdient: «Sehr gut muß der Lehrer sein! Aber kein Schüler kann ein Lehrer sein!» Das klingt fast nach Wittgenstein. Der metaphysische Gehalt solcher und ähnlicher Sätze hat uns noch lange beschäftigt. Rülpser des finalen Verfalls.

Musterschüler unerwünscht

Sehr zum Leidwesen Herrn Kaisers gab es in der Klasse jemanden, der fast fließend Spanisch sprach. Er verfügte über umfassende Vorkenntnisse, entsprechendes Sprachtalent und er war auch sonst recht fleißig. Unser Spanischlehrer konnte gar nicht umhin, ihm im ersten Jahr eine Eins zu geben. War jetzt ein Schüler zum Lehrer geworden? Um die Wirklichkeit soweit zu beugen, daß die Kaiser-Philosophie nicht mit den Tatsachen kollidierte, verwies unser Lehrer auf die Zukunft und betonte die Einmaligkeit dieser Note als Anreiz, der seinem Wohlwollen zu verdanken und natürlich auch dem Umstand geschuldet sei, daß im ersten Jahr alles möglich ist – also auch das Unmögliche, wozu man ja die Eins zählen müsse. Entscheidend sei hingegen alles weitere, und hier könne kein Schüler, und sei er noch so begabt, die Geschichte umschreiben. Geschichte? Wie auch immer, auch im zweiten Jahr regnete es wieder Einsen und Herr Kaiser wiederholte seinen Standpunkt von der Unmöglichkeit einer Eins wie auch im ersten Jahr mit einer Routine, in der sich Fanatismus und Mißgunst die Hand reichten. Doch schließlich befand er sich, da sein Musterschüler nicht nur bei sämtlichen Klassenarbeiten, sondern auch im Unterricht mit Eifer und Kompetenz punkten konnte, in echter Erklärungsnot. Gab es einen Ausweg? Wir waren gespannt …

Pädagogischer Amoklauf

Wenige Monate vor den Sommerferien hatte Herr Kaiser den entscheidenden Einfall. Bislang mußten wir, wie das beim Erlernen einer Sprache üblich ist, deutsche Texte ins Spanische übertragen. Wenn jemand Vokabeln, Grammatik und Redewendungen gelernt hatte und das Richtige niederschrieb, hatte der Lehrer keinen Spielraum für manipulative Eingriffe. Für die meisten Wörter gab es ohnehin nur eine Entsprechung, manchmal auch zwei, nur selten mehr. Und selbst dort, wo mehrere Bedeutungen vorhanden waren, gab unser Spanischbuch exakte Hinweise für den Gebrauch, worauf man sich natürlich hätte berufen können. Vollkommen anders war aber die Situation jetzt, als wir plötzlich fast nur noch Spanisch-Texte ins Deutsche übertragen mußten. Wenn unser Mitschüler, dem bislang kaum einer Fehler nachgewiesen werden konnte, nun das spanische Adjektiv «malo» mit «schlecht» oder «falsch» übersetzte, was durchaus korrekt ist, behauptete Herr Kaiser, die Diktion des Textes verlange nach einem anderen Adjektiv, «niederträchtig» oder «perfide» sei die bessere Wahl und daher die richtige Lösung. «Schließlich lernen wir nicht nur Spanisch. Wie in jeder Fremdsprache lernen wir auch Deutsch!» Natürlich hatte Herr Kaiser mit diesem Verfahren stets die Möglichkeit, das Richtige für falsch zu erklären und umgekehrt; manchmal war seine Wahl geradezu bizarr: Wo beispielsweise «boshaft» hätte stehen können, war nach seiner Meinung «frevelhaft» richtig, unter Umständen auch «schurkisch», und wo «verwerflich» ein passendes und gebräuchliches Adjektiv gewesen wäre, musste plötzlich «schmählich» stehen oder «nichtswürdig» bzw. «infam» anstelle von «gehässig» oder «schändlich» anstelle von «gemein» sowie «fies» und nicht etwa «übel» und so weiter und so weiter. Der Leser ahnt es bereits: Unser Sprachtalent hatte von nun an keine Chance mehr, die Bestnote zu halten und bekam schließlich auf dem Abschlußzeugnis eine Zwei. So war das auf unserer Schule.

Ein Mitschüler erzählte mir später, Herr Kaiser sei im Jahr darauf mit seinem Wagen in der Stadt gesehen worden. Offenbar hatte ihm jemand einen Streich gespielt. Auf der Fahrerseite stand in knallroten, mit Sprühlack geformten und bis zur Heckfront sich hinziehenden Lettern: «Dos Azafatas!» Gerücht oder Wahrheit? Auf jeden Fall ein Sinnbild.