Zwei Epochen – eine Geschichte (Teil 1: Stilebene 19/20)

Das schwebende Hindernis

Überfallartig hatte sich das Frühjahr in den Morgen geschoben als wollte es den Sommer vorauseilend verdrängen. Es war erst April. Ein fiebriger Schwung hatte die kleine Stadt erfaßt, in der Solies nun schon seit ein paar Wochen wohnte. Nach der Trennung von seiner Frau hatte er hier einen neuen Anfang gesucht. Doch er fühlte sich immer noch als Tourist. Vielleicht würde das jetzt anders werden, das Versprechen von Aufbruch und Neubeginn, das in diesem Morgen lag, markierte offensichtlich einen Wendepunkt. Überall war eine neue Lebhaftigkeit spürbar, wie ausgewechselt schien das Temperament des Volkes. Spannkraft und Eifer, die den öffentlichen Raum füllten, waren geradezu ansteckend. Noch auf dem Weg zum Straßencafé, in dem Solies die Vormittage verbrachte in der Hoffnung auf irgendeine Bekanntschaft oder einfach nur, weil er dachte, vielleicht dadurch dem Städtchen näherzukommen, beschloß er, den Berg zu besteigen, der direkt ans Zentrum grenzte.

Mit jedem Schritt, der ihn näher zum Aufgang führte, wuchs in ihm das Bewußtsein, etwas Wichtiges, beinahe Hochoffizielles zu tun, eine Überzeugung, die seinen Bewegungen etwas Zeremonielles verlieh, was ihn wiederum in seiner Haltung bestärkte. Solies überließ sich gerne solchen aus sich selbst schöpfenden Aufmunterungen ohne sich an deren Zirkelcharakter zu stören. Schon früher, wenn er kleine, völlig unbedeutende Erkundungen angestellt hatte, weidete er sich an dem hoheitsvollen Gepräge, das all seinen Handlungen innewohnte. Soweit es diese Stadt betraf, fühlte er sich wie von einer geheimen Kamera begleitet, die jeden Schritt, jedes Wort und jede Geste von ihm einfing. Selbst sein Schweigen. Auch jetzt, als er auf den Serpentinenweg einbog, spürte er dieses imaginäre Auge, das voller Hochachtung auf ihm ruhte. Wie fest schien doch bereits hier sein Schicksal mit dieser Stadt verknüpft, die ihm so viel zu geben hatte, daß er augenblicklich bereit war, alles, was er in Zukunft erreichen würde, mit ihr zu teilen, selbst seinen Ruhm.

In langen, würdevoll abgemessenen Schritten lief er von Serpentine zu Serpentine, über die endlos sich hinstreckenden Geraden, die immer steiler anstiegen, bis zur nächsten Biegung. «Als würde die Ahnung von einer besseren Zukunft geographisch bestätigt», dachte Solies. Es war sicherlich kein Zufall, daß seine ehrgeizigen Pläne, die nur von Zweiflern und Neidern als hochfliegend angesehen wurden, Menschen, die er in seiner Heimat zurückgelassen hatte, sich hier sinnbildlich verdichteten. Fast wurde er, ganz dieser Gewißheit ergeben, mehr getragen als daß er ging. Einen Drehpunkt nach dem anderen hinter sich lassend, eilte er mit fortschreitendem Tempo in Kehren und Windungen den Berghang empor, gelegentlich den Blick auf den Stadtkern senkend, der sich zusehends entfernte und dadurch immer greifbarer wurde.

Als er nun, nach einer besonders ausgedehnten, stark ansteigenden Kurve, hinunter sah, lag das Städtchen bereits weit in der Tiefe. Der Zeit enthoben, funkelten die Bauwerke in der Morgensonne nach allen Richtungen. In diesem lautlos-erhabenen Glanz lag etwas Herausforderndes, vermutlich  jener Apell, dem Fotografen oder Maler unmittelbar folgen: ein perfekter Moment, der auf Ewigkeit pocht. Solies stoppte. Mit ausgebreiteten Armen wandte er sich der Stadt zu, und obwohl er seine Gedanken nicht aussprach, hörte er jedes Wort deutlicher noch als hätte er es vor großem Publikum gesagt: «Eure Weisheit, die alles urteilend vorwegnimmt, ist mir Ansporn genug, mich in Dankbarkeit zu verneigen.» Solies ertappte sich bei dem Impuls, nun tatsächlich eine Verbeugung zu machen, drehte sich aber stattdessen um und blickte hinauf zum Gipfel, der aus einer Ferne lockte, die bereits von der Nähe aufgenommen wurde. Doch kaum hatte er die ersten Schritte getan, die nach dieser kleinen Pause viel beschwerlicher schienen, sah er am Ende des nun fast senkrecht aufsteigenden Weges am Horizont ein Tier, in dem er einen größeren Hund erkannte, einen Jagdhund womöglich, der zuerst nur beobachtend zu ihm hinuntergeblickt hatte, jetzt aber, nachdem Solies anhielt, um die Lage besser beurteilen zu können, seinen Körper vollständig wendete und majestätisch in seiner Haltung verharrte.

Solies zögerte. Dem Tier entgegenzugehen, war vielleicht zu gefährlich. Offenbar hatte es sich von seinem Besitzer, der nicht zu sehen war, schon ein Stück entfernt, so daß man eigentlich nur warten mußte, bevor es gerufen wurde. Andererseits konnte gerade in dieser Wartehaltung eine noch größere Kampfansage liegen. Also versuchte Solies, das Tier gar nicht zu beachten und seinen Weg fortzusetzen. So sehr er sich aber bemühte, nicht hinzusehen und unbekümmert weiter zu laufen, konnte er den Blick doch nicht abwenden, was vielleicht von Vorteil war, denn schon nach den ersten vorsichtigen, fast in Zeitlupe vollzogenen Schritten bemerkte er, wie sich das Tier aufbäumend in seine Richtung streckte.

Mitten auf dem Berg, allein mit diesem Hund, wurde die Isolation, in die Solies hineingewandert war, in ihrer ganzen Ausdehnung fühlbar, so daß seine Ängstlichkeit, die er anfangs noch belächelt hatte, in etwas Größeres umschlug. Die Gefahr war zu präsent, als daß man sich einfach über sie hätte hinwegsetzen können, und da die Folgen weiteren Abwartens ebensowenig berechenbar waren, verfiel Solies auf die Idee, eine kleine List anzuwenden, indem er abdrehte und so tat, als würde er das feindliche Terrain hinter sich lassen. Da er freilich nicht vorhatte, seine Wanderung abzubrechen, zeugten seine Schritte von einer Unentschlossenheit, die dem Tier wohl nicht entging, denn immer, wenn er nach einer Weile umdrehte, um zu überprüfen, ob es noch lauernd dastand, war die Situation unverändert. Einmal schien es sogar, als wäre es ein Stück nach vorne gerückt.

Schließlich erreichte Solies die Biegung, hinter der er für den Feind unsichtbar werden würde. Noch während er beschloß, dort eine Weile zu warten, wich seine Angst einer gewissen Ärgerlichkeit über diese unwürdige Unterbrechung seines Vorhabens. Die festliche Andacht, mit der er sich seinem Ziel genähert hatte, wurde von einem Zustand abgelöst, in dem die nervöse Anspannung, die keiner Rechtfertigung bedurfte, neben einem Gefühl von Reue lag, das allerdings unerklärlich war, zumal jeder andere in seiner Situation ebenso gehandelt hätte! Unbewaffnet mit einem wilden Tier zu kämpfen – war es das, was dieser Morgen von ihm verlangte? Ungeduldig, fast unbeherrscht verließ er seine Deckung und bog wieder auf die lange Gerade ein. Dabei entging ihm nicht, daß der gravitätische Klang seiner Schritte von einem anderen, nun sehr alltäglichem Geräusch verdrängt wurde, das beinahe komisch war in der Abfolge monotoner Laute wie sie für Wanderer typisch sind.

Doch es blieb keine Zeit, über diese Feststellung in weiteres Grübeln zu verfallen: Solies hatte auf dem Weg, dessen Horizont endlich freilag und der sich unter seinem energischen Schritt biegsamer noch hob und senkte, kaum zwanzig Meter zurückgelegt, als das Tier plötzlich wieder dastand. Es war, als wäre es nicht einmal zur Biegung zurückgelaufen, sondern, einem Bollwerk ähnlich, das an die Bewegungen des Eindringlings gekoppelt ist, jäh aus dem Boden emporgerollt. Unwillkürlich, vor aller Überlegung, emotionslos beinahe, warf Solies seinen Körper herum und trat, als würde er von etwas Unsichtbarem gezogen, den Rückzug an.

Während er endgültig hinabstieg, blieb nicht einmal Raum für das Eingeständnis einer Niederlage oder einer Verharmlosung des Geschehens. Mit pastoraler Trauer, die jede Überlegung unter sich begrub, lief er von Serpentine zu Serpentine durch den Frühlingstag dem Tal entgegen.

Kamera!

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