Unsere Lehrer (2) – heute: Der Choleriker

Unser Klassenlehrer, Herr K., gehörte zu den wenigen Lehrern, die einen Anzug trugen. Er fehlte nie, war immer pünktlich, und es schien, als wachte er mit gewissenhafter Strenge nicht nur über seine Schüler, sondern vor allem über sich selbst. Jedenfalls war das unser erster Eindruck. Doch schon sehr bald stellte sich heraus, daß Herr K. einen Nervenarzt hätte aufsuchen müssen: seine Wutanfälle hatten etwas Pathologisches.
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Unberechenbar

Wir haben uns oft gefragt, wie ein einziger Mensch soviel Groll in sich versammeln kann; im Klassenraum spielten sich schier unglaubliche Szenen ab: Wenn Herr K. einen seiner Anfälle hatte, flogen auch schon einmal Kugelschreiber und Bücher durch die Gegend. Gebrüllt wurde jede zweite Schulstunde, in besseren Zeiten nur einmal pro Woche; dann aber so laut, daß wir manchmal dachten, der Mann müsse gleich sterben. Dabei war es vollkommen unmöglich, seine Anfälle vorauszusehen, bisweilen genügte ein nichtiger Anlaß, um ihn aus der Bahn zu werfen. Würde er irgendwann womöglich zuschlagen? Oder tatsächlich im Klassenzimmer sterben? Wir hatten Angst um/vor ihm.

Rebellion

Um die Hilflosigkeit, mit der wir dem Treiben unseres Klassenlehrers ausgeliefert waren, besser zu ertragen, rebellierten wir, und unsere Rebellion nahm im Verlauf der beiden Schuljahre, wo Herr K. unsere Klasse führte, nahezu groteske Formen an. Eine ganze Tube Alleskleber wurde auf dem Lehrerpult ausgedrückt, Vorhänge wurden abgerissen, sogar Schränke verschwanden. Im Klassenbuch fehlten ganze Wochen. Einmal, Herr K. hatte gerade einen neuen Wagen gekauft, gaben wir eine Anzeige in seinem Namen auf – mit Angabe seiner Privatnummer: Notverkauf. Es war ein Mitsubishi Galant. Am nächsten Tag, kaum hatte uns Herr K., irgendetwas auf die Tafel schreibend, den Rücken zugekehrt, rief jemand mit verstellter Stimme flüsternd aber doch deutlich hörbar: «Mitsubishi!» Anschließend riefen sogar mehrere Mitschüler gleichzeitig. Unser Vorgehen war nicht ungefährlich, denn von den Noten hing viel ab. Doch das Bedürfnis, sich gegen die Zustände aufzulehnen, entzog sich dem Verstand: Es war eine Notwendigkeit.

Zerstörung

Das Mitsubishi-Ritual haben wir über viele Monate durchgezogen – mit einer Leidenschaft, die mich heute erstaunt. Man hätte glauben können, es sei unser Ziel gewesen, Herrn K. ins Krankenhaus zu bringen. Das Beängstigende war, daß wir es schafften, uns von Monat zu Monat zu steigern. Dabei war es nicht einmal Haß, den wir für diesen Menschen empfanden, auch keine abgrundtiefe Verachtung, er tat uns sogar leid, und doch war es uns nicht möglich, den Konflikt auf andere Weise auszutragen: Wir mußten den Unterricht zerstören. Es war wie ein Zwang. Eine Sucht. Waren wir auch krank geworden?

Kampf

Einmal habe ich mitten im Unterricht die FAZ aus der Tasche gezogen, sie vor mir ausgeklappt und gelesen. Es war eine Mutprobe. Daß Herr K. ausrasten würde, war klar. Die Frage war nur, konnte ich es schaffen, seiner mit Brüllstimme dahin schmetternden Aufforderung, die Zeitung wegzulegen, so lange zu widerstehen, bis er handgreiflich werden würde, und sei es auch nur in der Weise, daß er mir die Zeitung aus der Hand riß? War ich mutig genug, um dem Wahnsinn zu widerstehen? Ich hielt durch, allerdings nicht so lange wie ich erhofft hatte. Nach mehrmaliger Aufforderung, das Blatt endlich wegzulegen, kam Herr K. schreiend, außer sich vor Wut näher. Mitschüler berichteten mir später, sie hätten einen Schäferhund gesehen.

Finale

Nur eine Armlänge trennte mich noch von ihm. Plötzlich hob ich meinen Blick weg von der Zeitung und sah ihm direkt in die Augen. Immerhin war ich Klassensprecher, und es ging nun nicht nur um meine, sondern um die Würde der ganzen Klasse. Doch das Risiko, daß der Mann, der sich offenbar nicht mehr unter Kontrolle hatte, handgreiflich werden würde, erschien mir plötzlich zu groß. Wie konnten wir die Aktion abbrechen und doch siegen? Ich handelte instinktiv und tat erst einmal nichts, vier, fünf Sekunden vielleicht. Eine Grabesstille brachte den Raum zum Beben, die Anspannung war aufreizend und von einer Intensität, die für alle etwas Belastendes hatte; ein regelrechtes Vakuum wie vor einer Explosion baute sich auf. Unsere Blicke waren starr, unbeweglich – geradezu aneinander gekettet. Nach wie vor hielt ich die Zeitung in den Händen. Schließlich brach ein letzter Moment harten Schweigens an, jedes Nebengeräusch in sich aufsaugend. In dieses Schweigen hinein purzelte jetzt das Knistern der Zeitungsblätter, die ich langsam, wie in Zeitlupe, ja bewegungslos fast, aber voller Hingabe zusammenfaltete und schließlich so ordnete wie sie waren, als ich die Zeitung gekauft hatte. «Mitsubishi!»