Lauter Romananfänge – heute: «Tiefoben»

Ankunft

Tiefoben, im letzten Drittel einer weitläufigen Gebirgskette, wechselte die Natur ihre Gestalt, von Menschen geformte Strukturen bildeten ein bewegungsloses Band, das auf der Höhe eines von Wolken flankierten Gipfels über sich selbst hinaus zu ragen schien. 99 sah wieder auf die Fahrbahn. «Womöglich doch nur eine Kathedrale aus Hausteinen», dachte er, den Moment, wo seine Vermutung Gewißheit werden sollte, bereits vor Augen.

Eine engspurige, zu dieser Stunde allein von 99 befahrene Straße, zog sich in Schlangenlinien empor und führte durch einen Wald, der sich weit oberhalb der Fahrbahn zu einem dichten Netz zusammen geschlossen hatte, durch das nur hier und da ein Lichtstrahl drang. 99 schaltete die Scheinwerfer an, als er in der Ferne die Umrisse einer Person zu erkennen glaubte, die jetzt, vom Lichtkegel getroffen, ihren Körper herum warf und ihre Rechte schützend über die Augen hielt. «Vielleicht jemand aus der Stadt», dachte 99 und drosselte das Tempo.

Langsam, beinahe in Schrittgeschwindigkeit, näherte sich der Wagen dem Punkt, an dem die Person, in welcher 99 nun eine Frau erkannte, stehen geblieben war. 99 dachte nicht daran, daß seine Fahrweise verdächtig erscheinen mußte, zumal die Unbekannte seine Gedanken über eine Geste, die zum Anhalten aufforderte, in andere Bahnen lenkte: «Wieso gehst du halbnackt spazieren? Es ist Herbst! Oder spielst du Komödie? Wenn ja: für wen?!» 99 stoppte.

Zwei bis drei Wagenlängen von der Unbekannten entfernt, trat 99, dessen Neugierde in Mißtrauen umgeschlagen war, zögernd ins Freie. Sein Atem wurde sichtbar und schob sich in kurzen Schüben ins Dämmerlicht des Morgens, das wie aufgehängt zwischen den Enden des Waldes vor seinen Blicken schwebte.