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Fragmentsturz (Der Bau/Franz Kafka) – ein mögliches Ende…

Das Finale

… aber alles blieb unverändert, das ist unzweifelhaft, denn über alle Selbsttäuschungen hinweg, die Verstand und Urteilskraft verdunkeln, meinen Sinnen kann ich trauen und mein Gedächtnis ist ungetrübt. Andererseits liegt in der Vergewisserung dieser Unversehrtheit die erste Spur nachlassender Kräfte. Warum muß ich mich dessen vergewissern, was früher fraglos vor aller Überlegung lag? Derart schulterklopfend ist der Beweis erbracht, daß mein Verfall in mein Inneres vordringt, Geist und Instinkt aushöhlend. Eine verhängnisvolle Umschlingung. Dort, an dieser letzen Bastion, wo ich unangreifbar schien, kann nun der Feind triumphieren. Mein Gegner, selbst der nur in der Einbildung vorhandene, steht über mir, das unzweifelhafte Bewußtsein meiner Existenz erlischt; auch ohne Gegner bin ich verloren, schlimmer noch: ohne Gegner bin ich nichts. Das Sinnlose aller Fragen einsehend, spüre ich die Kühle des Baus, die mich jäher noch umfängt. Und wieder horche ich – diese letzte aller Fragen ist geblieben – in die Tiefe neuer Gänge: Höre ich überhaupt ein Zischen? Das, was ich mir sehnlicher nicht hätte wünschen können, ruft Bestürzung in mir hervor angesichts einer einzigartigen, trügerischen Stille, die förmlich in mich hineinfällt. Diese scheinbare, eingebildete, diese herbeigesehnte Stille – sie ist bedrohlicher als das größte Zischen je sein könnte. Ich sinke nieder, schiebe meinen Leib wahllos von Loch zu Loch und grabe, gänzlich meiner Verzweiflung ergeben, mehr mit den Ohren als mit allem Übrigen, als wären sie die Hand, die ich dem Zischer entgegenstrecke. Ach, würde ich ihn doch nur hören! Wie befreiend selbst das hartnäckigste Zischen jetzt wäre, die Gewißheit des Feindes – der Kampf ginge weiter. Und damit die Hoffnung, auch wenn die Übermacht eines solchen Gegners keinen Kampf ermöglicht, ein uneigentlicher Kampf wäre es schon, wengistens der Legende nach. Nun aber, wo die Massen, während ich wie irre weitergrabe, über mich hinstürzen und keine Hoffnung auf Rückkehr besteht, ist es ein Fliehen zum Feind, zum erlösenden Griff seiner Klauen, und vielleicht nicht einmal das. Und doch fühle ich mich freier noch als in den süßesten Stunden. Wozu der Kampf? Hineinrollend in den Tod ist das Gefühl von Freiheit erst hier nach allen Seiten hin vollständig und von geradezu aufreizender Verlockung. Endgültigkeit, die mich würgend aufnimmt. Es ist vollbracht.

Mark Rinasky

Liebesgedichte im Affekt (2)

Dreiklang der Liebe

Ein Leben ohne Dich ist wie ein Spiegelstrich, der durch Kapitel jagt, die sinnentleert im Namenlosen kreisen: kein Zeichen naht ihm, kein Code, der ihn umfängt und keine Zahl, die zu ihm drängt. Er ist der Bote, der im Vergessen seinen Zweck erkennt und ohne Gruß das Sein zum Abschied lenkt: um sich ins Innerste zu wenden, wo Deine Sphäre weiterschwingt und wie im Flug sein Wesen noch im Todeskampf erhält, bis ein letztes Mal Dein Name in einer süßen Melodie verklingt. A.N.I.

Liebeserklärung bei 38 Grad

Es laufen doch recht viele Damen hier herum, sogar Kleider, Röcke und Haarspangen tragen einige. Sind sie hübsch? Sind sie interessant? Sind sie überhaupt echt? Ich weiß es nicht, und, ganz wichtig, ich will es auch nicht wissen: denn ich sehe immer nur Dich. Und solange ich Dich nicht in einem der Gesichter entdecken kann, verschwimmt es ohnehin im Horizont der Kulissen. Wenn aber eine den Hauch eines Wasserzeichens, das auf Dich verweisen könnte, in sich trägt, schaue ich für einen Moment genauer hin, aber nur, weil ich weiß, was dann geschieht, denn kaum, daß ich meine Lupe an sie halte, muß ich sie sogleich wieder fallen lassen. Es war nur eine Attrappe. Wo bist Du?

Liebesbrief zum Osterfest

Schicht! Bin wieder daheim, nachdem ich quer durch Deutschland und zurück geradelt bin, von West nach Ost über Nord nach Süd – überall den üblichen Plunder abwerfend: Osterhasen, Schoko-Gold und echte Scheine. Am kältesten war es auf den ostfriesischen Inseln, wo ich kurz als Nikolaus aufgetreten bin, was sehr lustig war, denn einige Kinder haben mich mit Weihnachtsliedern beworfen. Schnell war ich wieder auf dem Festland, wo ich mehr rutschend als fahrend durchs Land gedüst bin – Hoppla! –, immer auf der Suche nach dem großen Licht in der Stadt, das sich ja meistens auf dem Land versteckt hält. Hier habe ich auch ein Abziehbild von Dir gefunden, das an so vielen Stellen verteilt wird, seit Du dem stillen Leben Abschied gewunken hast. Voller Wehmut sehnt man sich nach jener Zeit zurück, wo das Rauschen Deines Haars jedes Fest übertönte. «Du. Immer.» Das Motto dieses Osterfestes. Das Motto dieses Jahres. Das Motto unserer Liebe. Deshalb habe ich es auch auf jedes Haus geschrieben, verziert mit Deinem Namen. Schau aus dem Fenster! 

Der Tweet

Spiegelplatz, erste Seitenstraße – der Wagen sauste raketenhaft in die Kurve. Eine schrille Frequenz schob sich in die Nacht. Und weiter. Eine kompromißlose Verfolgung. Doch es war kein anderes Auto, dem unsere Helden anhingen. Autorennen waren out. Und fies. Das Zielobjekt hingegen gehörte zum Kostbarsten, was der Abend zu bieten hatte: ein Spruch knapp unterhalb des 140iger-Limits; bereit, in die Welt geschickt zu werden, bereit, die Herzen der auf Langweile Programmierten zu erfrischen. Ein Tweet.

Das operettenhafte Getue der Wortkombination war der Stunde geschuldet, nicht dem Inhalt. Der Samstagabend hing wie eine Attrappe über der Stadt. Um das Klischee in der Wirklichkeit zu ersticken, mußte alles noch komischer wirken als gewöhnlich. Geisterstunde? Mit geradezu groteskem Eifer entzog sich der Tweet dem Zugriff. Höchstgeschwindigkeit. Die Verfolger kreischten. Distanz: ein Meter.

Da sprang die Kombi aus dem Lauf über die Straßenflucht hinweg Richtung Häuserzeile bis zur ersten Etage eines Hotels empor, wo ein einsamer Server kichernd seine Runden drehte. Und rein. Durch die endlosen Weiten elektrischer Sphären bahnte sich der Tweet seinen Weg Richtung Timeline. Die Tweetpolizei folgte.

Zu spät. Die TL-Schwelle lag hinter ihm, als sich die Verfolger, zwei Marionetten in pink, auflösten: geschafft, gesendet – kursiv: «Umgib Dich mit wilden Tieren, aus deren Klauen ich Dich rette, um selbst zu sterben, damit Du weißt, daß ich Dich liebe.»
Retweet!

Unsere Lehrer (2) – heute: Der Choleriker

Unser Klassenlehrer, Herr K., gehörte zu den wenigen Lehrern, die einen Anzug trugen. Er fehlte nie, war immer pünktlich, und es schien, als wachte er mit gewissenhafter Strenge nicht nur über seine Schüler, sondern vor allem über sich selbst. Jedenfalls war das unser erster Eindruck. Doch schon sehr bald stellte sich heraus, daß Herr K. einen Nervenarzt hätte aufsuchen müssen: seine Wutanfälle hatten etwas Pathologisches.
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Unberechenbar

Wir haben uns oft gefragt, wie ein einziger Mensch soviel Groll in sich versammeln kann; im Klassenraum spielten sich schier unglaubliche Szenen ab: Wenn Herr K. einen seiner Anfälle hatte, flogen auch schon einmal Kugelschreiber und Bücher durch die Gegend. Gebrüllt wurde jede zweite Schulstunde, in besseren Zeiten nur einmal pro Woche; dann aber so laut, daß wir manchmal dachten, der Mann müsse gleich sterben. Dabei war es vollkommen unmöglich, seine Anfälle vorauszusehen, bisweilen genügte ein nichtiger Anlaß, um ihn aus der Bahn zu werfen. Würde er irgendwann womöglich zuschlagen? Oder tatsächlich im Klassenzimmer sterben? Wir hatten Angst um/vor ihm.

Rebellion

Um die Hilflosigkeit, mit der wir dem Treiben unseres Klassenlehrers ausgeliefert waren, besser zu ertragen, rebellierten wir, und unsere Rebellion nahm im Verlauf der beiden Schuljahre, wo Herr K. unsere Klasse führte, nahezu groteske Formen an. Eine ganze Tube Alleskleber wurde auf dem Lehrerpult ausgedrückt, Vorhänge wurden abgerissen, sogar Schränke verschwanden. Im Klassenbuch fehlten ganze Wochen. Einmal, Herr K. hatte gerade einen neuen Wagen gekauft, gaben wir eine Anzeige in seinem Namen auf – mit Angabe seiner Privatnummer: Notverkauf. Es war ein Mitsubishi Galant. Am nächsten Tag, kaum hatte uns Herr K., irgendetwas auf die Tafel schreibend, den Rücken zugekehrt, rief jemand mit verstellter Stimme flüsternd aber doch deutlich hörbar: «Mitsubishi!» Anschließend riefen sogar mehrere Mitschüler gleichzeitig. Unser Vorgehen war nicht ungefährlich, denn von den Noten hing viel ab. Doch das Bedürfnis, sich gegen die Zustände aufzulehnen, entzog sich dem Verstand: Es war eine Notwendigkeit.

Zerstörung

Das Mitsubishi-Ritual haben wir über viele Monate durchgezogen – mit einer Leidenschaft, die mich heute erstaunt. Man hätte glauben können, es sei unser Ziel gewesen, Herrn K. ins Krankenhaus zu bringen. Das Beängstigende war, daß wir es schafften, uns von Monat zu Monat zu steigern. Dabei war es nicht einmal Haß, den wir für diesen Menschen empfanden, auch keine abgrundtiefe Verachtung, er tat uns sogar leid, und doch war es uns nicht möglich, den Konflikt auf andere Weise auszutragen: Wir mußten den Unterricht zerstören. Es war wie ein Zwang. Eine Sucht. Waren wir auch krank geworden?

Kampf

Einmal habe ich mitten im Unterricht die FAZ aus der Tasche gezogen, sie vor mir ausgeklappt und gelesen. Es war eine Mutprobe. Daß Herr K. ausrasten würde, war klar. Die Frage war nur, konnte ich es schaffen, seiner mit Brüllstimme dahin schmetternden Aufforderung, die Zeitung wegzulegen, so lange zu widerstehen, bis er handgreiflich werden würde, und sei es auch nur in der Weise, daß er mir die Zeitung aus der Hand riß? War ich mutig genug, um dem Wahnsinn zu widerstehen? Ich hielt durch, allerdings nicht so lange wie ich erhofft hatte. Nach mehrmaliger Aufforderung, das Blatt endlich wegzulegen, kam Herr K. schreiend, außer sich vor Wut näher. Mitschüler berichteten mir später, sie hätten einen Schäferhund gesehen.

Finale

Nur eine Armlänge trennte mich noch von ihm. Plötzlich hob ich meinen Blick weg von der Zeitung und sah ihm direkt in die Augen. Immerhin war ich Klassensprecher, und es ging nun nicht nur um meine, sondern um die Würde der ganzen Klasse. Doch das Risiko, daß der Mann, der sich offenbar nicht mehr unter Kontrolle hatte, handgreiflich werden würde, erschien mir plötzlich zu groß. Wie konnten wir die Aktion abbrechen und doch siegen? Ich handelte instinktiv und tat erst einmal nichts, vier, fünf Sekunden vielleicht. Eine Grabesstille brachte den Raum zum Beben, die Anspannung war aufreizend und von einer Intensität, die für alle etwas Belastendes hatte; ein regelrechtes Vakuum wie vor einer Explosion baute sich auf. Unsere Blicke waren starr, unbeweglich – geradezu aneinander gekettet. Nach wie vor hielt ich die Zeitung in den Händen. Schließlich brach ein letzter Moment harten Schweigens an, jedes Nebengeräusch in sich aufsaugend. In dieses Schweigen hinein purzelte jetzt das Knistern der Zeitungsblätter, die ich langsam, wie in Zeitlupe, ja bewegungslos fast, aber voller Hingabe zusammenfaltete und schließlich so ordnete wie sie waren, als ich die Zeitung gekauft hatte. «Mitsubishi!»