Lauter Romananfänge – heute: «Die Chimäre»

Das Baby war gesund und eindeutig ein Mädchen. Niemand hätte vorauswissen können, daß es sich um ein Mischwesen handelte: Der Körper bestand aus Zellen verschiedener Herkunft; offenbar waren «zwei der insgesamt drei nach der Reagenzglasbefruchtung übertragenen Embryonen – ein weiblicher und ein männlicher – in der Gebärmutter miteinander verschmolzen». Eine Vermutung, mit der ein FAZ-Reporter an die Öffentlichkeit trat, allerdings erst fünf Jahre später.
Das Vorhandensein weiblicher und männlicher Kernschleifen auf der 45. Chromosomenebene hatte sich erst über den Umweg einer molekulargenetischen Untersuchung ergeben, für die in den ersten Lebensjahren kein Anlaß bestand. Der Säugling war zwar kräftiger und hungriger als alle übrigen auf der Station, doch das bestätigte den Befund nur: Das Baby war gesund. Außerdem war es schön, «ultimativ schön» sogar; die Verwendung der zitierten Wortkombination konnte sich dank einer Unzahl von Überlieferungen von Datenträger zu Datenträger bis zur Jetztzeit mogeln, indes sich auf einer der beiden Ablichtungen, die uns im Zuge der Recherche zugespielt worden waren, die Schikane der Fotografie von ihrer schlimmsten Seite zeigte …

Lauter Romananfänge – heute: «Tiefoben»

Ankunft

Tiefoben, im letzten Drittel einer weitläufigen Gebirgskette, wechselte die Natur ihre Gestalt, von Menschen geformte Strukturen bildeten ein bewegungsloses Band, das auf der Höhe eines von Wolken flankierten Gipfels über sich selbst hinaus zu ragen schien. 99 sah wieder auf die Fahrbahn. «Womöglich doch nur eine Kathedrale aus Hausteinen», dachte er, den Moment, wo seine Vermutung Gewißheit werden sollte, bereits vor Augen.

Eine engspurige, zu dieser Stunde allein von 99 befahrene Straße, zog sich in Schlangenlinien empor und führte durch einen Wald, der sich weit oberhalb der Fahrbahn zu einem dichten Netz zusammen geschlossen hatte, durch das nur hier und da ein Lichtstrahl drang. 99 schaltete die Scheinwerfer an, als er in der Ferne die Umrisse einer Person zu erkennen glaubte, die jetzt, vom Lichtkegel getroffen, ihren Körper herum warf und ihre Rechte schützend über die Augen hielt. «Vielleicht jemand aus der Stadt», dachte 99 und drosselte das Tempo.

Langsam, beinahe in Schrittgeschwindigkeit, näherte sich der Wagen dem Punkt, an dem die Person, in welcher 99 nun eine Frau erkannte, stehen geblieben war. 99 dachte nicht daran, daß seine Fahrweise verdächtig erscheinen mußte, zumal die Unbekannte seine Gedanken über eine Geste, die zum Anhalten aufforderte, in andere Bahnen lenkte: «Wieso gehst du halbnackt spazieren? Es ist Herbst! Oder spielst du Komödie? Wenn ja: für wen?!» 99 stoppte.

Zwei bis drei Wagenlängen von der Unbekannten entfernt, trat 99, dessen Neugierde in Mißtrauen umgeschlagen war, zögernd ins Freie. Sein Atem wurde sichtbar und schob sich in kurzen Schüben ins Dämmerlicht des Morgens, das wie aufgehängt zwischen den Enden des Waldes vor seinen Blicken schwebte.

Kanzler Herbst

In Anwendung der charakteristischen Merkmale irdischer Jahreszeiten auf das menschliche Gemüt mag die Frage erlaubt sein, welche Jahreszeit am ehesten über Kanzlereigenschaften verfügt. Es erscheint zunächst unfair, die Jahreszeiten gegeneinander ausspielen zu wollen, doch es geht hier nicht um Sieger und Verlierer. Taugt die eine Jahreszeit zum Reisen, ist die andere für die Arbeit wie geschaffen. Und wer könnte schon reisen ohne zu arbeiten? Oder wachen (Sommer) ohne zu schlafen (Winter). So wie der Priester vom Gläubigen abhängt, braucht der Arzt den Patienten oder der Unternehmer die Putzfrau. Hierbei ist es völlig gleichgültig, daß es mehr Putzfrauen als Unternehmer gibt. Die Einführung von Rängen ist eine Erfindung des Menschen, und da das eine ohne das andere unmöglich ist, spielen Zahlen keine Rolle. Schließlich hat jeder Kanzler einen Frisör. Und so wie es nur einen Kanzler geben kann, so kann auch nur ein einziger Mensch Frisör des Kanzlers sein. Allein die Frage bleibt: Welche Jahreszeit kann nun Kanzler werden?

Viel spricht für den Sommer, allem Anschein nach die beliebteste Jahreszeit. Doch wenn der Sommer wirklich so beliebt ist, warum sind es dann gerade die Sommermonate, in denen die Menschen unser Land in Scharen verlassen? Sie mögen zwar den Sommer, aber wohl kaum im Zusammenhang mit dem Land, für das der Kanzler steht. Außerdem stehen Sommer wie Winter für Extreme, der Kanzler hingegen muß diese Endpunkte überbrücken und in der Mitte stehen, womit nur noch das Frühjahr und der Herbst in Frage kommen. Und dürfte hier nicht das Frühjahr sämtliche Trümpfe in der Hand halten: Aufbruch, Neuanfang – Vorbereitung der wärmsten Zeit des Jahres. Wie keine andere Zeit steht das Frühjahr für Wandlung, Entwicklung und Erneuerung. Begriffe, die den rechten Rahmen geben, aus dessen Zentrum ein jeder Kanzler vergnügt nach vorne blickt. Im Herbst hingegen verfärben sich die Blätter an den Bäumen, bevor sie dann abfallen. Diese Jahreszeit, der Vorbote des langen Winters, steht für das Sterben schlechthin. Und wenn der Winter – über den man, soweit es um denn Kanzler geht, nur soviel wissen muß, daß er in der Rangliste der Kandidaten den letzten Platz einnimmt – ein Freund des Herbstes ist, muß dann nicht auch der Herbst nah beim Winter und damit an vorletzter Stelle stehen?

Dies alles scheint logisch, weil es so einfach ist. Doch schauen wir uns die beiden Jahreszeiten noch einmal genauer an. Mit der steigenden Lichtintensität des Frühlings werden die Glücksstoffe Serotonin und Dopamin vermehrt ausgeschüttet, was zwar ein allgemein besseres Befinden bewirkt, jedoch auch eine leichte Euphorie erzeugen kann. Ferner verstärkt die Frühjahrszeit den Wunsch nach einem Partner bei den meisten Menschen auf eine bisweilen fast animalische Weise. Gegenläufig zu dieser Entwicklung stellt sich bei manchen Menschen die Frühjahrsmüdigkeit ein, deren genaue Ursache bislang ungeklärt ist. Somit steht das Frühjahr auch für eine gewisse Unbeständigkeit. Nicht umsonst sprechen unsere Dichter vom Lenz des Lebens (die Jugend). Und wer im DUDEN nachschlägt, stößt auf folgenden Hinweis: «einen sonnigen, schönen, ruhigen, faulen usw. Lenz haben» bzw. schieben, kurz: «ein angenehmes, bequemes Leben bzw. eine leichte, bequeme Arbeit haben.» Nein, das können wir unserem Kanzler nicht zumuten. Das Frühjahr, soviele gute Eigenschaften es auch in sich vereint, es darf nicht Kanzler werden, zu stark kooperiert es mit Elementen, die einer erfolgreichen Kanzlerschaft abträglich sind, mit den Elementen der Ausschweifung und des Wankelmuts nämlich. Damit steht fest: Der Herbst muß es richten. Er muß Kanzler werden.

Doch dieser Befund ist nicht nur dem kalten Gesetz der Ausschlußdiagnose geschuldet, wir hätten auch auf anderen Wegen zum Herbst kommen können; in näherer Betrachtung dieser Jahreszeit wissen wir auch warum. Wie wir bei unserem so geliebten Internet-Lexikon Wikipedia erfahren, ist das «Wort Herbst verwand mit engl. harvest, lat. carpere (= pflücken, Ernte) und griech. karpós (Frucht, Ertrag.) Es kommt von indogerm. sker (= schneiden). Ursprünglich bedeutete Herbst [also] ‹Zeit der Früchte›, ‹Zeit des Pflückens›, ‹Erntezeit›». Und wer anders als der Kanzler sollte als Repräsentant dieser wichtigen Zeit die Dinge richten und, wenn man bedenkt, daß im Herbst die Umstellung der Uhrzeit von der Sommer- (Menschenzeit) auf die normale (göttliche) Zeit vorgenommen wird, das Richtige vom Falschen scheiden? Es geht um nicht weniger als um das Ganze: zur Ewigkeit zurückzufinden. Und das kann nur der Herbst wie uns der Leutnant, ein Freund der Familie, gestern in Versform bestätigen konnte:

Kurz vor Ewigkeit
[Sonnenuntergang/Herbst-Winter]

Ein letzter Schein noch nicht im Grund verborgener Helle
über die das Band des Dunkels wie verschwebend sich zum Ganzen schließt
hebt noch im Sturz die Glut des Tages hoch zu jener Stelle
wo unter einem sanften Schimmer Gruß und Abschied ineinander fließt.

Und wo in fein gespannter Anmut Herbst und Winter zueinander flieht
hebt bald im Sturz ein Schein noch nicht im Sein verborgener Helle
die Glut des Jahres herab zu jener zeitlos ewig unerreichten Stelle
an der das Band des Himmels wie verschwebend sich zur Gänze schließt.

Mittagstisch!

30 Minuten Wahnsinn

Die Gemütslage einer Familie läßt sich recht gut am Mittagstisch studieren. Auf engstem Raum vereint, gleichgesinnt in der Zielrichtung, und, sozusagen gegenläufig zum stillen Zwang, von dem diese Zusammenkunft beseelt ist, mit den besten Absichten ausgestattet, feiert man eine zeitlich begrenzte Initiative. Die bisweilen konträren Befindlichkeiten der Anwesenden, die das Familienleben gewöhnlich beschweren, spielen hier eine untergeordnete Rolle. Das Ziel verbindet, das Verlangen überbrückt. «Guten Appetit!»